Zum Hauptinhalt springen
0
Info
Portrait von Jo Applin
Sprecher:in | Jo Applin

Jann Haworth und die Poetik des Weichen

Abstrakt

1962, als sie gerade 20 Jahre alt war, wandte sich die in London lebende US-amerikanische Künstlerin Jann Haworth entschieden von der Malerei ab und begann eine Serie lebensgroßer Skulpturen aus Patchwork- und Steppstoffen. Eine der Ersten war „Old Lady 1“ (1962), auf die Haworth eine Reihe weicher, ausgestopfter Figuren alter Menschen folgen ließ. Vermeintlich fest auf die Vergangenheit bezogen, scheint die Werkgruppe alles infrage zu stellen, was wir über die 1960er-Jahre als ein Jahrzehnt technologischer, sexueller und politischer Revolution zu wissen glauben. In einer von jugendlichen Verheißungen geprägten Zeit hat es etwas geradezu eigenwillig Verqueres, eine Karriere einzuschlagen, die – inmitten der Londoner Kunstszene der Swinging Sixties – auf textilen skulpturalen Darstellungen älterer Menschen gründet. Haworth zeigte „Old Lady 1“ in ihrer ersten Einzelausstellung 1966 neben der deutlich jugendlicheren, mit Korsett und Strümpfen bekleideten und aus weichen Materialien genähten „Lindner Doll“ (1965). Ihr Titel ist eine Hommage an die „harten“ techno-futuristischen Frauenfiguren, die der Künstler Richard Lindner seit den 1950er-Jahren malte. Haworths Interesse an Lindners Werk ist ebenso überraschend wie aufschlussreich. Hier soll ein Vergleich zwischen den fetischistischen, glänzenden Oberflächen von Lindners Figuren und den weichen, nachgiebigen Stoffarbeiten von Haworth als Anlass dienen, um einen neuen Blick auf die „Poetik des Weichen“ zu werfen – einen Begriff, den der Kunstkritiker Max Kozloff 1967 für die damalige Hinwendung zur „soft sculpture“ geprägt hatte. Dieser Beitrag wird das Weiche neu beleuchten, es im Hinblick auf Animismus und Altern befragen und die neuen Technologien des Körpers, die Haworths seltsame Figuren artikulieren und annehmen, in den Mittelpunkt rücken.

Über Jo Applin

Jo Applin ist Professorin für Kunstgeschichte am Courtauld Institute of Art in London, wo sie auch den Fachbereich Kunstgeschichte leitet. Zu ihren Buchveröffentlichungen gehören „Eccentric Objects. Rethinking Sculpture in 1960s America“ (2012), „Yayoi Kusama. Infinity Mirror Room – Phalli’s Field“ (2012), „Alison Wilding“ (2018, mit Briony Fer) und „London Art Worlds. Mobile, Contingent, and Ephemeral Networks, 1960–1980“ (2018, mit Catherine Spencer and Amy Tobin) sowie „Lee Lozano. Not Working“ (2018). Ihr aktuelles Projekt befasst sich mit dem Thema Kunst und Altern.