Sabine Liebner | John Cage | Music for Piano 1 – 84

Beschreibung von John Cage 

1. Gegeben sind Tinte; Feder und Blätter transparenten Papiers von bestimmter Größe. Es wird eine Musterseite ohne Notationen irgendwelcher Art hergestellt; diese hat vier vollständige Liniensysteme (8 x 5 Linien). Jedes einzelne System kann entweder im Bass- oder Violinschlüssel benutzt werden. Ein System läßt neun obere und sechs untere Hilfslinien in gleichem Abstand wie die normalen Linien zu. Zwischen den beiden Systemen ist ein wenig Raum freigelassen. Er wird durch eine Linie geteilt; sie dient zur Notation von Geräuschen, die entweder im inneren Klaviergehäuse oder durch Schläge gegen das äußere Gehäuse erzeugt werden.
2. Die Musterseite wird weggelegt. Dann werden Zufallsmanipulationen von I – Ching abgeleitet, um die Anzahl der Töne für jede Seite zu bestimmen. Diesen Zufallsmanipulationen sind Grenzen gesetzt (1-128 mögliche Töne je Seite für die Stücke 21-36, 1-32 Töne für die Stücke 37-52).
3. Ein leeres Blatt transparenten Papiers wird so gelegt, daß die punktförmigen Unregelmäßigkeiten im Papier leicht sichtbar werden. Diese werden mit Bleistift markiert in einer Anzahl, die der durch die Zufallsmanipulationen bestimmten Tonzahl entspricht.
4. Das mit Bleistift markierte Blatt wird auf die Musterseite gelegt. Gewöhnliche ganze Noten werden mit Tinte überall dorthin geschrieben, wo ein Bleistiftpunkt in den Bereich der Noten- oder Hilfslinien fällt, schwarze Notenköpfe ohne Hals werden dorthin geschrieben, wo immer ein Bleistiftpunkt zwischen beiden Systemen markiert ist.
5. Münzen werden nun achtmal geworfen (für die 4 x 2 Systeme), um Bass- oder Violinschlüssel zu ermitteln, diese werden mit Tinte eingetragen.
6. Die 64 Möglichkeiten des I-Ching  werden durch Zufallsoperationen in drei Gruppen eingeteilt, die verschiedenen Kategorien entsprechen: auf den Tasten zu spielen, die Klaviersaite mit dem Finger gedämpft, gezupft. Auf ähnliche Weise wird bestimmt, ob eine Note erhöht oder erniedrigt ist.
7. Damit ist die Aufzeichnung der Komposition abgeschlossen. Vieles ist nicht festgelegt, es bleibt der Aufführung vorbehalten.

John Cage hat wie kein anderer Komponist die Kunstproduktion des 20. und 21. Jahrhunderts beeinflusst, sowohl im musikalischen, darstellerischen wie auch visuellen Bereich. Seine grenzüberschreitende Arbeitsweise war richtungsweisend für nachfolgende Komponisten- und Künstlergenerationen.
Den Musikbegriff formulierte John Cage gänzlich neu, indem er Zufallsoperationen und Unbestimmtheit als Kompositionsprinzipien einsetzte. Er erfand neue Notationsformen und etablierte Geräusch und Stille als wesentliche musikalische Elemente. Seine Werke definieren sich nicht über die Entwicklung einer individuellen, über Jahre hin entstandenen und so zum unverwechselbaren Charakteristikum gewordenen Tonsprache. Er bezieht seine Identität als Komponist aus der Umkehrung dieser Haltung, indem er die Befreiung der Klänge von persönlichen Vorlieben und narrativen Elementen postuliert.
John Cage bricht als Komponist und Denker radikal mit der abendländischen Tradition: sein experimentelles Arbeiten geht nicht zielorientiert vor, im Vordergrund steht nicht das Ergebnis, sondern der offene, sich immer wieder verändernde Arbeitsprozess. Bewertungskriterien führt er somit ad absurdum, die nachvollziehbare Verbindung zwischen Komposition und Ausführung wird gelöst, die Position von Komponist und Interpret neu definiert. Ereignis und Ereignislosigkeit, Klang und Stille stehen im Zentrum von John Cages Musik.