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Essay

In die Tiefe sammeln

Jacqueline Humphries, 31/13, 2013, UAB 882aus der Sammlung Brandhorst

Einleitender Text

Seit ihren Anfängen konzentriert sich die Sammlung Brandhorst auf einzelne Künstlerinnen und Künstler und erwirbt oft Arbeiten aus deren verschiedenen Schaffensphasen. Diese Philosophie erlaubt es dem Museum, die Entwicklung ausgewählter künstlerischer Positionen genau zu untersuchen und zu zeigen.

Essay

„Doch wir wollen eben unserem Publikum zeigen, wie sich künstlerische Blickpunkte über die Zeit verändern können.“
– Jacob Proctor

 

Ein Kunstwerk an einer weißen Wand ist in der Regel zunächst einmal ein stummes Rätsel. Ohne Kontext, ohne Information bleibt den Betrachtenden nichts anderes übrig, als sich Gedanken über das zu machen, was man da sieht – Formen, Farben, Material und Motiv –, und frei zu assoziieren. Im Untergeschoss des Brandhorst hängt derzeit als Teil der Ausstellung „Forever Young“ etwa ein „Silver Painting“ der US-amerikanischen Malerin Jacqueline Humphries (*1960) mit dem Titel „31/13“ (2013). Es ist Teil einer Serie, für die Humphries schwarze Ölfarbe mit silbernem Industrielack mischte und auf Leinwände auftrug. Daraus entstanden Arbeiten, die Licht gleichzeitig absorbieren und reflektieren, in denen die oder der Betrachtende verschwommen schimmert oder verschwindet. Wenn man möchte, kann man sehr viele Dinge lesen in diesem Bild. Landschaften, vom Sturm zerfetzte Wolken, eine verregnete Stadt von oben. Diese Art der Annäherung ist natürlich legitim, sie ist aber auch radikal subjektiv.

 

Sie kommt sich mit einem anderen Zugang zur Kunst nicht in die Quere, beide können sich vielmehr ideal ergänzen. Denn was man in der einzelnen Arbeit erst einmal nicht sieht, ist der Weg, den Humphries bis zu ihrem Entstehen zurückgelegt hat. Welche Schritte in ihrem künstlerischen Schaffen sich in diesem Werk vereinen, an welche Diskurse sie anknüpft, was sie zitiert oder wovon sie sich abgrenzt. Auch in nicht gegenständlichen Werken spiegeln sich Themen, persönliche Erfahrungen und – beides vereinend – ein spezieller Entwicklungsprozess wider. Wie Humphries seit ihren Anfängen mit Pinsel, Leinwand und Farbe in immer wieder neuen Variationen Oberflächen erzeugt, die mit Licht und Perspektive spielen und in denen man sich beim Betrachten verlieren kann: All das ist auch Ausdruck eines Werdegangs. Ein Kunstwerk ist immer ein Zwischenschritt von der letzten zur nächsten Arbeit, Teil einer Entwicklung. Für diese Genese von Künstlerinnen und Künstlern interessiert sich die Sammlung Brandhorst von Beginn an. „Es geht bei uns darum, in die Tiefe zu sammeln“, erklärt Jacob Proctor, Kurator am Brandhorst. „Wir setzen uns intensiv mit einzelnen künstlerischen Positionen auseinander. Das unterscheidet uns von vielen anderen öffentlichen Museen, wo eher Stile und Epochen abgedeckt werden sollen.“ Ziel dieses Ansatzes ist es, so viele wegweisende Arbeiten aus verschiedenen Werkphasen einer Künstlerin oder eines Künstlers in der Sammlung zu vereinen wie möglich. Man kann so zeigen und untersuchen, welche Wegetappen sie hinter sich haben, welcher rote Faden sich durch das Werk zieht, wann und warum er abreißt und vielleicht sogar einen Ausblick wagen, was von ihr oder ihm noch zu erwarten ist. Die tiefe Beschäftigung mit individuellen künstlerischen Sichtweisen ist die Grundlage der Sammlung Brandhorst. Von Cy Twombly (1928– 2011) besitzt das Museum die umfangreichste Werkpalette der Welt, von Andy Warhol (1928–1987) die größte außerhalb der Vereinigten Staaten. Von beiden finden sich Arbeiten aus allen Schaffensperioden in der Sammlung. Aber auch von Alex Katz (*1927) sind Werke aus fünf Dekaden dort vertreten, große Bestände gibt es ebenfalls von Mike Kelley (1954–2012), Seth Price (*1973), Albert Oehlen (*1954) oder eben Jacqueline Humphries. Die Philosophie des tiefen Sammelns und der damit einhergehenden Erörterung einzelner künstlerischer Standpunkte in ihrer Genese kommt auch in den Ausstellungen des Museums zum Ausdruck.

 

In „Forever Young“ gibt es zum Beispiel die „Spot On“-Räume, die in der Regel einer Künstlerin oder einem Künstler gewidmet sind (gelegentlich werden auch zwei Positionen ausgestellt) und in denen Werkblöcke gezeigt werden, die vom Brandhorst kürzlich erworben wurden. Bis Anfang September waren dort etwa Jacqueline Humphries’ „Black Light Paintings“ (seit 2005) zu sehen, bis 7. Januar Werke von Michael Krebber (*1954) und R.H. Quaytman (*1961). Aber auch der Entwurf vieler Ausstellungen der letzten Jahre folgt dem Ansatz der tiefen Auseinandersetzung. Künstlerinnen und Künstler wie Kerstin Brätsch (*1979), Jutta Koether (*1958) oder Seth Price bespielten einen Großteil des Hauses, gaben einen umfassenden Einblick in ihren Werkkomplex. „Es ist natürlich ein Statement, so viele Ressourcen, so viel Zeit und Raum für eine Künstlerin oder einen Künstler zu verwenden. Doch wir wollen eben unserem Publikum zeigen, wie sich künstlerische Blickpunkte über die Zeit verändern können, welche Einflüsse und Strömungen auf sie einwirken“, sagt Jacob Proctor.

 

Die ambitionierten Ausstellungen werden von wissenschaftlich anspruchsvollen Monografien begleitet, die das jeweilige Werk aus unterschiedlichen Perspektiven analysieren und betrachten. Das Ziel ist, nichts Geringeres als Standardwerke zu schaffen: Wenn man sich gründlich mit Koether oder Price beschäftigen möchte, kommt man an diesen Kompendien kaum vorbei. Durch die Bandbreite der individuellen Positionen kann das Brandhorst zudem immer wieder zeigen, wie sich in den Arbeiten über Jahre hinweg bestimmte Diskurse der jeweiligen Gegenwart widerspiegeln. Oder wie Künstlerinnen und Künstler diese kommentieren oder wie sich ihr Ansatz zu Strömungen der Gegenwartskunst verhält. Das wird auch bei der nächsten großen Ausstellung im Museum nach „Forever Young“ 2020 wieder so sein. Die Schottin Lucy McKenzie (*1977) bewegt sich zwischen Installationen und Malerei. Oft trägt sie ihre Bilder auf Objekte auf, auf Möbel zum Beispiel, die an Art nouveau erinnern und mit bemalten Leinwänden überzogen sind. So erhält eine Matratze die Textur von Marmor, woraus ein illusionäres Spiel mit Härte und Weichheit entsteht, mit Erwartung und Entzauberung, mit real wirkendem Irrealen, für das die Künstlerin schon seit mehreren Jahren gefeiert wird. Man kann sich dann auf eine Reise in McKenzies Welt begeben, in der durch die Verknüpfung von Interiordesign, Mode und klassischer Malerei Orte entstehen, die Assoziationen unzählige Andockstellen bieten.